Tibetische Proteste als Symptom der chinesischen Modernisierung

Seit den Tagen des Tiananmen-Massakers sah sich die chinesische Führung nicht mehr derart umfassenden Problemen gegenüber. Die politischen Eliten müssen nicht nur die ernsthafte Beeinträchtigung der olympischen Spiele und die Destabilisierung der chinesischen Herrschaft in Tibet befürchten, ganz zu schweigen vom Wahlausgang in Taiwans und seine politischer Zukunft. Auf dem Prüfstein steht das Entwicklungs- d.h. Modernisierungsprogramm, das die kommunistische Partei seit 1978 umsetzt, und damit die Grundlagen der Einparteienherrschaft. Folgende Aspekte ermöglichen meines Erachtens ein eingermaßen kohärente Deutung der Geschehnisse - für alle, die dieser bedürfen.
  • In ihrer Reaktion auf die tibetischen Aufstände muss sich die chinesische Führung äußerst vorsichtig verhalten. Dies ist nicht nur dem massiven internationalen Interesse im Vorfeld der olymischen Spiele geschuldet, sondern insbesondere mit Rücksichtname auf die unmittelbar bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Taiwan. Als Folge eines harten Durchgreifens könnte Ma Ying-jeou, der bislang in Umfragen deutlich in Führung liegende, als China-freudlich geltende Kandidat der Kuomindang ins Hintertreffen geraten. Gleichzeitig befürchten Hardliner in Beijing, dass ein zu nachlässiger Umgang mit den Auftständischen andere, als Seperatisten geltende Gruppierungen und womöglich sogar Falungong auf den Plan ruft, die Olympischen Spiele als Plattform für ihre Anliegen zu nutzen.
  • Die gewaltätigen Aufstände, die die Sicherheitskräfte allem Anschein nach überrascht haben, schaden dem innerparteilichen Ansehen der Führungsgruppe um Hu Jintao und Wen Jiabao - insbesondere wegen Hus früherer Tätigkeit als Parteichef in Tibet. Die Gewaltausbrüche offenbaren der Weltöffentlichkeit und der chinesischen Bevölkerung selbst die illusorische Rethorik der "harmonischen Gesellschaft", die den Kern von Wens und Hus Regierungsprogramm ausmacht. In der Tat scheinen die direkten Angriffe Wen Jiabaos auf den Dalai Lama nicht zuletzt aus seiner bereits geschwächten Position (innerhalb Chinas) zu resultieren. Bei einer weiteren Eskalation der Proteste, wie sie sich bislang beobachten lässt, ist nicht auszuschließen, dass es zu Personalveränderungen bis in die obersten Führungsspitzen kommen kann.
  • Aus größeren Abstand betrachtet werfen die Proteste in Tibet, die weniger religiöse oder ethnische Spannungen widerspiegeln, sondern eher auf ökonomische Ungleichheiten verweisen, die grundsätzliche Frage der klaffenden Spaltung zwischen Profiteuren und Benachteiligten des chinesischen Entwicklungsweges auf - und diese Frage bleibt keineswegs auf Tibet oder einige ethnische Minderheiten in China beschränkt. Hierin besteht der eigentliche Zündstoff. Nicht umsonst versucht die Regierung die öffentliche chinesische und internationale Debatte um die Frage der territorialen Integrität zu organisieren. Chinas Modernisierungsarbeit in Tibet - dazu zählen z.B. Straßenbau, Elektrifizierung, Krankenhäuser und Schulen - dürfte grundsätzlich von der tibetischen Bevölkerung geschätzt werden. Problematisch ist nicht die Modernisierung per se, die als Sinisierung verkleidet in gewaltigen Schritten voranschreitet, sondern die ungleiche Verteilung ihres ökonomischen Mehrwerts. Paradoxerweise erscheint der Protest junger Tibeter aus Sicht der chinesischen Führung als mangelnde Dankbarkeit, denn spätestens seit den verstärkten Bemühungen die westlichen Regionen Chinas zu entwickeln und den Lebensstandart der dortigen Bevölkerung anzuheben, sind viele Billiarden Yuan nach Tibet, Xinjiang und Qinghai geflossen. Die Empörung vieler Chinesen ist durchaus echt, vergleichbar vielleicht mit einer Sichtweise, die den europäischen Kolonialisten nicht fremd war, als sie berauscht von heilstiftenden Missionsidealen höchst rational ihre Modernisierungs- und Zivilisierungsprogramme verfolgten. Ein Blick in chinesische Internetforen zeigt jedoch darüberhinaus einen weit verbreiteten Rassismus gegenüber Tibetern. Der Han-Chauvinismus geht teilweise soweit, dass die "Vernichtung" der Tibeter gefordert.
  • Ausufernde und plötzliche Gewaltausbrüche sind in nahezu allen Regionen Chinas zu beobachten. Die offizielle Statistik über ländliche "Massenunruhen" (mit Tausenden Protestierenden), Jahr für Jahr ansteigend, gibt Zeugnis einer verbreiteten Unzufriedenheit und Gewaltbereitschaft. Gründe lassen sich hierfür zahlreiche aufzählen: Arbeitslosigkeit, Landraub, Korruptionsskandalen, Umweltverschutzung, Ausbeutung und Unterdrückung durch ländliche Kader etc. Diesen Einzelphänomenen liegen aus meiner Sicht zwei tiefergehende Tendenzen zu Grunde:
    Erstens die fortschreitende ökonomische Zweiteilung der Bevölkerung. Beim internationalen Vergleich des Gini Index, der die Ungleichheit der nationalen Einkommensverteilung misst, überholte China bereits die USA und Indien. Dieser Makrotrend spiegelt sich auf tieferer Ebene in zahllosen, teils gewalttätigen Auseinandersetzungen wieder, die in Unternehmen, Städten, Dörfern, Migrantengruppen etc. ausgetragen werden. Auf dem Land, wo immer noch der Großteil aller Chinesen und Chinesinnen lebt, erscheint die Benachteiligung im wesentlichen als Zerstörung oder zumindest massive Transformation der bisherigen Lebenswelt - bedingt durch Industrialisierung, Rationalisierung der landwirtschaftlichen Produktion und Marktliberalisierung.
    Zweitens ein Verlust von persönlicher Orientierung. Die Angebote, an denen sich die Subjektformation, die individuellen Erzählungen, das Wertesystem der Menschen anlehnen können, sind vielfältiger und zugleich entpolitisiert worden. Es gibt keine einheitliche ideologische Linie mehr, auch wenn die chinesische Führung jetzt versucht mit der "harmonischen Gesellschaft" eine neue übergreifende Erzählung zu etablieren. Persönliche Sinnstiftung und -findung muss selbstständig alternative Quellen suchen. Dazu zählen z.B. Nationalismus, Patriotismus, Konsumerismus, Religion, Alkoholismus, Alltagsspiritualität oder Alltagsphilosohpie - wie es sich etwa beim Wiedererstarken des Konfuzianismus beobachten lässt. Für die städtische Jungend in Lhasa trifft diese Diagnose in doppelter Wiese zu. Die jungen Tibeter und Tibeterinnen haben meist nicht nur die mit der Urbanisierung einhergehende Entwurzelung am eigenen Leib mit gespürt, sondern werden zugleich in der Ausübung ihres buddhistischen Glaubens von der chinesischen Administration behindert. Die beiden wichtigsten Identifikationsfiguren der tibetischen Religionsgemeinschaft sind von chinesischer Seite beseitigt worden: der Dalai Lama muss im indischen Exil ausharren, während der Panschen Lama im Alter von fünf Jahren entführt und von einer Marionette Pekings ersetzt wurde. Mehr noch als durch die Umsiedlungspolitik Pekings, die Hundertausende Han-Chinesen nach Tibet brachte, drohen die Tibeter von der zunehmenden wirtschaftlichen Migration nach Tibet in ihrer Heimat kulturell marginalisiert zu werden.

    Der Fall der tibetischen Unruhestifter lässt sich abgesehen von seinen spezifischen Besonderheiten - vor allem der kollektiven Erfahrung kommunistischer Repression und systematischer physischer und mentaler Gewalt - ohne Schwierigkeiten in beide Megatrends einordnen. Die Tibeter scheinen sogar jeweils einen Extremfall darzustellen, denn sowohl hinsichtlich ihrer Einkommenssituation, als auch ihrer persönlichen Sinnkonstruktion fühlen sie sich von Seiten der Han-Chinesen diskriminiert bzw. benachteiligt. Deshalb klingt das offizielle Narrativ von der erfolgreichen und gönnerhaften Modernisierung Tibets vielleicht überzeugend für die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung. Der Position vieler benachteiligter Tibeter bleibt vor diesem Hintergrund nicht einmal die Option die chinesische Entwicklungspolitik kritisch zu hinterfragen, denn der autoritäre Modernisierungsdiskurs chinesischer Provenienz gesteht den "Empfängern" ausschließlich Dankbarkeit und kritiklosen Entwicklungswillen zu.

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