Gibt es ein politisches Nachbeben im Einparteienstaat China?
Philip Taubman vertritt in einem höchst spekulativen Artikel in IHT, in dem er in Folge des Erdbebens und der politischen Öffnung des Landes für ausländische Hilfe und Medienberichterstattung eine ähnliche Entwicklung wie in der späten Sowjet Union vermutet. Meines Erachtens ist diese These zwar nicht völlig abwegig - so scheint es wegen des großen Medieninteresses zu einer "kollektiven" Übertretung der ursprünglich sehr restrikten Bestimmungen des Propagandaministeriums gekommen zu sein (siehe hier). Dennoch hielt sich die intensive Berichterstattung weitgehend an unkritische Themen. Vor allem der "heroische" Einsatz Wen Jiabaos rückte in den Mittelpunkt. Von der wachsenden innerchinesischen Kritik an möglichen Korruption und unerlaubter Einsparmaßnahmen an öffentlichen Gebäuden (vor allem im Falle der vielen kollabierten Schulgebäude) abgesehen, stehen Chinesinnen und Chinesen hinter ihrer Regierung. Und dies ist keineswegs der Effekt einer gut orchestrierten Propagandaaktion, wie Georg Blume zurecht argumentiert. Es ist spontane Anteilnahme bei Politikern und unter der Bevölkerung, die die Grenzen des bisher Üblichen und Möglichen weit überschreitet. Dafür sind nicht nur die umfassenden und raschen Rettungsaktionen und die Versorgung der betroffenen Bevölkerung verantwortlich, sondern auch der persönliche Einsatz höchster Regierungsmitglieder. Welche mittel- und langfristigen politischen Auswirkungen sind also zu erwarten?
Zumindest kurzfristig nutzt diese Katastrophe sogar der chinesischen Regierung. Sie kann so ihr, wegen der Tibetkrise arg angeschlagenes, internationales Image zu verbessern. Die olympischen Spiele werden sicher in einem anderen Licht gesehen werden als es noch vor wenigen Tagen der Fall gewesen wäre. Die staatlich verordnete Trauerzeit von drei Tagen (übrigens erstmalig in dieser Form in China) sowie die zahlreichen privaten und halböffentlichen Initiativen zur Unterstützung der Opfer (South China Morning Post schätzt die Zahl freiwilliger privater Helfer auf 200.000) helfen die zerstörerische Energie des in den letzten Wochen hochgekochten Nationalismus in ein konkretes patriotisch-humanitäres Projekt umzumünzen. Die Bergung und Versorgung der Katastrophenopfer, die erstmalig internationale Kooperation (von Japan über Korea bis Taiwan und Russland) zulässt, verbessert enorm den Ruf ausländischer Medien, Völkern und Regierungen unter den chinesischen Bevölkerung. Erstmalig seit 1945 sollen sogar japanische Militärmaschinen auf chinesischem Boden landen.
Es bleibt freilich abzuwarten, ob die offensichtliche Protokollveränderung der Medienpolitik wirklich Anzeichen einer grundlegenden Wende zur politischen Offenheit ist. Auf alle Fälle jedoch wird der öffentliche Umgang mit der Erdbebenkatastrophe zu einer Messlatte für zukünftiges Katastrophenmanagement der Regierung werden. Vor allem im Umweltbereich lässt dies auch bei Unfällen kleinerer Dimension einen Zwang zu mehr Transparenz und Medienzugang erwarten. Die sich ausweitenden Proteste der Eltern gegen lokale Kader und Behörden (hier, hier und hier), deren Kinder durch den Zusammenbruch von Schulgebäuden dem Erdbeben zum Opfer fielen (und die Berichterstattung in chinesischen Medien darüber), deuten bereits jetzt in diese Richtung. Ein Professor der Beida führt den schlechten baulichen Zustand vieler kollabierter Schulen auf mangelnde demokratische Mechanismen auf lokaler Eben zurück. Um weitere "Wenchuans" überall in China zu verhindern sei weniger direkte Intervention der Zentralregierung als demokratische Kontrolle von Amtspersonen und Budgets notwendig (engl. Übersetzung des Artikels hier).
Durch diesen Präzedenzfall könnte eine langfristige Dynamik losgetreten worden sein, die sich nicht mehr mit den herkömmlichen Zensurmitteln kontrollieren lassen dürfte. Denn Chinas Bevölkerung dürfte den offenen und menschennahen Politikstil auch für andere kritische Politikfelder wie z.B. beim Umweltschutz, Korruption, Landvergabe oder in der Sozial- und Bildungspolitik einfordern. Damit steht die KPC vor einer "Managemententscheidung", von der die Stabilität ihrer weiteren Herrschaft abhängt: sie kann entweder diese neue Offenheit vorantreiben und für sich nutzen (mit allem damit verbundenen Lernprozessen, einschneidenden Politikwechseln, machtpolitischen Risiken aber auch Vertrauens- und Legitimitätszuwachs) oder aber die Uhr zurück drehen und den Pfad, den Wen Jiabao und andere eingeschlagen haben, zugunsten der bisherigen antipluralistischen Medienkontrolle verlassen. Mit der ersten Option legt die KPC keineswegs ihre Steuerungs- und Manipulationsinstrumente für die Öffentliche Meinung aus der Hand (wie gerade die Erdbebenberichterstattung deutlich macht). Nicht zufällig informieren sich chinesische Regierungsvertreter zur Zeit ausführlich über Mediensystem und Medienkontrolle in offenen Gesellschaften (beispielsweise in einer Zusammenarbeit mit Bertelsmann AG). Mit der zweiten Option ist hingegen keineswegs eine Erfolgsgarantie verbunden. Denn die einmal gesetzte Messlatte dürfte viele ChinesInnen in Zukunft immer wieder zur Fundamentalkritik an einer restriktiven Medienzensur - und darüber hinaus an einer nicht unmittelbar an den Interessen der Menschen orientierten Problemlösungspolitik - veranlassen und damit die bislang effektive Medienpolitik zu einer Konfliktquelle ersten Ranges werden lassen. Nicht zu vernachlässigen sind auch die professionellen, profitorientierten Medien, die trotz täglicher Zensurpraxis, längst nicht mehr allein nach der Pfeife der Partei tanzen. Sie sind stattdessen unmittelbar orientiert an den Informationsbedürfnissen ihrer Leserschaft. Die Berichte chinesischer Zeitungen über die Zyklon-Katastrophe in Burma, die momentan scheinbar unzensiert bleiben, stellt den abwartenden Ansatz der Pekinger Regierung bereits in Frage, ohne allerdings direkte Kritik zu üben.
Damit verbunden gibt es noch eine weitere Entwicklung, die zu andauernden politischen Veränderungen führen könnte. Im Erdbebengebiet und darüber hinaus in ganz China kommt es zu einer nie da gewesenen Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Kräfte. Man könnte sogar von einer regelrechten Jugendbewegung sprechen. Diese stehen jedoch den Behörden nicht feindlich oder misstrauisch gegenüber (und umgekehrt), sondern arbeiten Hand in Hand mit ihnen zusammen bei der Erstellung von Datenbanken, Vermißtenlisten, der Bergung und Identifizierung von Opfern, der Versorgung von Millionen obdachlosen Menschen, der Aufnahme von Opfern, der Zusammenführung von Familienangehörigen usw.
Das kooperative nebeneinander von Bürgern - Behörden, Privatpersonen, Nichtregierungsorganisationen, Unternehmen und der Staat, überschreitet deutlich die Grenzen des bisher politisch möglichen. Insofern stellt diese funktionierende Kooperation die andere Seite des offenen und unmittelbaren Katastrophenmanagements der Hu-Wen-Regierung dar. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Positivbeispiel zivilgesellschaftlichen Engagements unter der Bevölkerung und den Eliten Chinas als Orientierung für die zukünftige Entwicklung der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in China dienen wird. Ob es sich dabei im Demokratisierungsprozess Chinas nur "um einen kleine Schritt vorwärts" handelt, wie Wenran Jiang vermutet, oder das Erdbebenereignis die Rolle der NRO in China grundlegend verändern wird, ist vorerst nicht zu entscheiden. Jedenfalls muss diese regelrechte Explosion der Zivilgesellschaft, die gerade von der Philanthropie der ersten, oft als materialistische Egoisten bewerteten Einkind-Generation Chinas getragen wird, nicht unweigerlich zu Bedenken in den Führungsspitze der kommunistischen Partei führen, sondern als Chance begriffen werden. Aus Sicht der Reformkräfte und allen, die für mehr Bürgerpartizipation und Medienfreiheit eintreten, wird diese Erfahrung zum gewichtigen Argument werden, wenn es darum geht, den zukünftigen Pfad politischer Öffnung zu verhandeln.
Zumindest kurzfristig nutzt diese Katastrophe sogar der chinesischen Regierung. Sie kann so ihr, wegen der Tibetkrise arg angeschlagenes, internationales Image zu verbessern. Die olympischen Spiele werden sicher in einem anderen Licht gesehen werden als es noch vor wenigen Tagen der Fall gewesen wäre. Die staatlich verordnete Trauerzeit von drei Tagen (übrigens erstmalig in dieser Form in China) sowie die zahlreichen privaten und halböffentlichen Initiativen zur Unterstützung der Opfer (South China Morning Post schätzt die Zahl freiwilliger privater Helfer auf 200.000) helfen die zerstörerische Energie des in den letzten Wochen hochgekochten Nationalismus in ein konkretes patriotisch-humanitäres Projekt umzumünzen. Die Bergung und Versorgung der Katastrophenopfer, die erstmalig internationale Kooperation (von Japan über Korea bis Taiwan und Russland) zulässt, verbessert enorm den Ruf ausländischer Medien, Völkern und Regierungen unter den chinesischen Bevölkerung. Erstmalig seit 1945 sollen sogar japanische Militärmaschinen auf chinesischem Boden landen.
Es bleibt freilich abzuwarten, ob die offensichtliche Protokollveränderung der Medienpolitik wirklich Anzeichen einer grundlegenden Wende zur politischen Offenheit ist. Auf alle Fälle jedoch wird der öffentliche Umgang mit der Erdbebenkatastrophe zu einer Messlatte für zukünftiges Katastrophenmanagement der Regierung werden. Vor allem im Umweltbereich lässt dies auch bei Unfällen kleinerer Dimension einen Zwang zu mehr Transparenz und Medienzugang erwarten. Die sich ausweitenden Proteste der Eltern gegen lokale Kader und Behörden (hier, hier und hier), deren Kinder durch den Zusammenbruch von Schulgebäuden dem Erdbeben zum Opfer fielen (und die Berichterstattung in chinesischen Medien darüber), deuten bereits jetzt in diese Richtung. Ein Professor der Beida führt den schlechten baulichen Zustand vieler kollabierter Schulen auf mangelnde demokratische Mechanismen auf lokaler Eben zurück. Um weitere "Wenchuans" überall in China zu verhindern sei weniger direkte Intervention der Zentralregierung als demokratische Kontrolle von Amtspersonen und Budgets notwendig (engl. Übersetzung des Artikels hier).
Durch diesen Präzedenzfall könnte eine langfristige Dynamik losgetreten worden sein, die sich nicht mehr mit den herkömmlichen Zensurmitteln kontrollieren lassen dürfte. Denn Chinas Bevölkerung dürfte den offenen und menschennahen Politikstil auch für andere kritische Politikfelder wie z.B. beim Umweltschutz, Korruption, Landvergabe oder in der Sozial- und Bildungspolitik einfordern. Damit steht die KPC vor einer "Managemententscheidung", von der die Stabilität ihrer weiteren Herrschaft abhängt: sie kann entweder diese neue Offenheit vorantreiben und für sich nutzen (mit allem damit verbundenen Lernprozessen, einschneidenden Politikwechseln, machtpolitischen Risiken aber auch Vertrauens- und Legitimitätszuwachs) oder aber die Uhr zurück drehen und den Pfad, den Wen Jiabao und andere eingeschlagen haben, zugunsten der bisherigen antipluralistischen Medienkontrolle verlassen. Mit der ersten Option legt die KPC keineswegs ihre Steuerungs- und Manipulationsinstrumente für die Öffentliche Meinung aus der Hand (wie gerade die Erdbebenberichterstattung deutlich macht). Nicht zufällig informieren sich chinesische Regierungsvertreter zur Zeit ausführlich über Mediensystem und Medienkontrolle in offenen Gesellschaften (beispielsweise in einer Zusammenarbeit mit Bertelsmann AG). Mit der zweiten Option ist hingegen keineswegs eine Erfolgsgarantie verbunden. Denn die einmal gesetzte Messlatte dürfte viele ChinesInnen in Zukunft immer wieder zur Fundamentalkritik an einer restriktiven Medienzensur - und darüber hinaus an einer nicht unmittelbar an den Interessen der Menschen orientierten Problemlösungspolitik - veranlassen und damit die bislang effektive Medienpolitik zu einer Konfliktquelle ersten Ranges werden lassen. Nicht zu vernachlässigen sind auch die professionellen, profitorientierten Medien, die trotz täglicher Zensurpraxis, längst nicht mehr allein nach der Pfeife der Partei tanzen. Sie sind stattdessen unmittelbar orientiert an den Informationsbedürfnissen ihrer Leserschaft. Die Berichte chinesischer Zeitungen über die Zyklon-Katastrophe in Burma, die momentan scheinbar unzensiert bleiben, stellt den abwartenden Ansatz der Pekinger Regierung bereits in Frage, ohne allerdings direkte Kritik zu üben.
Damit verbunden gibt es noch eine weitere Entwicklung, die zu andauernden politischen Veränderungen führen könnte. Im Erdbebengebiet und darüber hinaus in ganz China kommt es zu einer nie da gewesenen Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Kräfte. Man könnte sogar von einer regelrechten Jugendbewegung sprechen. Diese stehen jedoch den Behörden nicht feindlich oder misstrauisch gegenüber (und umgekehrt), sondern arbeiten Hand in Hand mit ihnen zusammen bei der Erstellung von Datenbanken, Vermißtenlisten, der Bergung und Identifizierung von Opfern, der Versorgung von Millionen obdachlosen Menschen, der Aufnahme von Opfern, der Zusammenführung von Familienangehörigen usw.
Das kooperative nebeneinander von Bürgern - Behörden, Privatpersonen, Nichtregierungsorganisationen, Unternehmen und der Staat, überschreitet deutlich die Grenzen des bisher politisch möglichen. Insofern stellt diese funktionierende Kooperation die andere Seite des offenen und unmittelbaren Katastrophenmanagements der Hu-Wen-Regierung dar. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Positivbeispiel zivilgesellschaftlichen Engagements unter der Bevölkerung und den Eliten Chinas als Orientierung für die zukünftige Entwicklung der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in China dienen wird. Ob es sich dabei im Demokratisierungsprozess Chinas nur "um einen kleine Schritt vorwärts" handelt, wie Wenran Jiang vermutet, oder das Erdbebenereignis die Rolle der NRO in China grundlegend verändern wird, ist vorerst nicht zu entscheiden. Jedenfalls muss diese regelrechte Explosion der Zivilgesellschaft, die gerade von der Philanthropie der ersten, oft als materialistische Egoisten bewerteten Einkind-Generation Chinas getragen wird, nicht unweigerlich zu Bedenken in den Führungsspitze der kommunistischen Partei führen, sondern als Chance begriffen werden. Aus Sicht der Reformkräfte und allen, die für mehr Bürgerpartizipation und Medienfreiheit eintreten, wird diese Erfahrung zum gewichtigen Argument werden, wenn es darum geht, den zukünftigen Pfad politischer Öffnung zu verhandeln.
MaxM - 19. Mai, 20:56