Widersprüchliche Stimmungen: 'Neuer Nationalismus' oder Vertrauensverlust?

Im Jahr der Olympischen Spiele ist China nicht nur in den Mittelpunkt des weltweiten Interesses und meist harter Kritik gerückt, auch die chinesischen Bürgerinnen und Bürger reflektieren selbst über ihr Land, ihre Regierung und wie sie dazu stehen sollten. Diese vielfältige Debatte und Reflexion ist aufs engste mit mindestens zwei widersprüchlichen Stimmungen verbunden, die über dieses Jahr hinaus zentrale Bedeutung unter der chinesischen Bevölkerung behalten werden: Nationalismus und Vertrauensverlust.

Die erste emotionale Dynamik lässt sich umschreiben mit dem Begriff 'neuer Nationalismus'. Das neue Nationalgefühl kam nach der einseitigen Berichterstattung internationaler Medien in Folge der Aufstände in Tibet - unvergleichlich stärker als während der antijapanischen Proteststürme (2005) voll zu Ausbruch. Der nationalistische Volkszorn richtete sich nicht nur gegen die ausländische Presse (und das Ausland generell), sondern insbesondere auch gegen inländisch Autoren, die zur Besonnenheit und Eigenkritik aufforderten. Kommerzielle Medien wie Nanfang Zhoumo oder Southern Metropolis Daily kämpfen mit massivem öffentlichem Druck. Neben der Zensurpraxis seitens der KPH werden sie nun zudem mit dem Vorwurf des Landesverrats bzw. des Ausverkaufs chinesischer Kerninteressen konfrontiert.

Wie oft in der Geschichte der Nationalismen, konstruieren die Teilnehmer der Auseinandersetzung in China ihre Identität in Opposition zu einer uniformierten Außenwelt, während zugleich zwischen Regierung, Partei und Bevölkerung kein Blatt mehr zu passen schien. Immerhin die Einheitsfront ließ abweichende Stimmen nicht verstummen. So wurde die Zentralregierung dafür kritisiert, nicht hart genug die aufständischen Tibeterinnen vor zu gehen. Diese nutzte ihrerseits das Spektakel der Olympischen Spiele ausgiebig, um die Einheit von Nation, Volk und Staat zu verankern (siehe hier).


Die zweite Stimmung steht der ersten, die China zu homogenisieren und eine grundsätzliche Übereinstimmung der Interessen zwischen Regierung und Bevölkerung zu implizieren scheint, diametral gegenüber. Mit einem Wort: Vertrausenverlust. Von den baulichen Schwachstellen zahlloser Schulgebäude, die während des Erdbebens tausende Schülerinnen unter sich begruben über die Grubenunglücke und Erdrutsche bis hin zur den Lebensmittelskandalen - die Summe dieser Ereignisse hat das Vertrauen in die Kontroll-, Regulations- und Aufsichtspflicht des Staates völlig untergraben (siehe zum Milchskandal). Es ist unmissverständlich deutlich geworden, dass es sich keineswegs um eine schlichte Verletzung der Aufsichtsobliegenheiten handelt. Die Verquickung von Unternehmen und Kadern, beide die eindeutigen Gewinner der Öffnungs- und Reformpolitik, besitzt nicht den Charakter eines Versäumnisses, das durch öffentlichkeitswirksame Einzelmaßnahmen behoben werden könnte. Die Vertrauensverlust ist an die Einsicht gekoppelt, dass die Ursachen ein strukturelles Problem des politischen Systems sind.

Natürlich sind dies für viele Chinesinnen keine neuartigen Einsichten (wie die unermüdliche journalistische Arbeit von Liu Binyan u.v.a. belegt). Ich denke aber, dass die landesweite Betroffenheit insbesondere im Rahmen der vorsätzlichen Verunreinigung von Milchpulver die Fäulnis der Einparteienherrschaft in ihrer momentanen staatskapitalistischen Version auf eine neue Bewusstseinsebene gebracht hat. Wie sich der damit verbundene Glaubwürdigkeitsverlust auf die Legitimität der KPC auswirkt bleibt noch abzuwarten.

Wer sich von diesen Skandalen zumindest einen Schub für den chinesischen Rechtsstaat erhofft, wird allerdings enttäuscht. Wie mit den Opfern des Milchpulverskandals (der Begriff ist irreführend, da es sich ja gerade nicht um etwas außergewöhnliches, sondern die alltägliche Praxis handelt) umgegangen wird, zeigt, dass der Rechtsweg aller Rechtsstaatsrhetorik zum trotz offensichtlich nicht zu den bevorzugten Problemlösungsansätzen zählen. Der Gesetzesentwurf zur Kompensation geschädigter Bürgerinnen, wie er zur Zeit von im ständigen Ausschuss des Volkskongresses diskutiert wird, sieht vor allem eine schnellere Regelung auf administrativem Wege vor - rechtliche Mittel sollen erst in letzter Instanz bemüht werden können (siehe den Bericht in Xinhua). Mit der bewussten Umgehung der unteren Ebenen der judikativen Organe verweist Chinas Führung - wenn man so möchte - indirekt auf die Dysfunktionalität des gesamten Rechtssystems. Aus pragmatischer Sicht dürfte die neue Regelung jedoch in der Tat zu einer Verbesserung der Lage betroffener Bürger führen.

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